PHILIPPE PIGUET

PHILIPPE PIGUET

Robert Schad, Skulptur in Bewegung

In seinem Park hat Robert Schad die Skultur ENFIM 2000 aufgestellt. Sie steht in der Nähe einer Baumreihe buchstäblich in den Boden gepflanzt und verkörpert auf emblematische Weise die Ästhetik der Linie, die Schads Arbeit zugrunde liegt. Wie die Pflanzen in der umliegenden Natur scheint sie hier heimisch geworden zu sein. Schaut man die Skulptur an, ist man sofort beeindruckt von der Art, wie sie Teil der Landschaft wird. Sie ragt aus der Erde, streckt sich zum Himmel hinauf und ist von einer kraftvollen Bewegung beseelt, die sie zugleich zerbrechlich und widerstandsfähig macht. Die Linie geht von einer sensiblen Geometrie aus, deren scheinbare Geradlinigkeit durch die leicht gebogene Abfolge der einzelnen Elemente unterbrochen wird, aus denen sie komponiert ist. Mit äußerst sparsamen Mitteln drängt sie sich als Manifest eines wirklich ontologischen Denkens der Skulptur auf.

«Die geometrische Linie ist ein unsichtbares Wesen», schreibt Wassily Kandinsky in seinem Werk ‚Punkt und Linie zur Fläche‘1. Er fährt fort: «Sie ist die Spur des Punktes in Bewegung und damit sein Ergebnis. Sie wird aus der Bewegung geboren – und zwar durch die Aufhebung der äußersten Unbeweglichkeit des Punktes. Hier erfolgt der Sprung vom Statischen zum Dynamischen.» Auch wenn sich Kandinskys Werk eher mit der Frage der Malerei befasst, schwingen seine Worte stark im Verständnis Skulptur von Robert Schad mit, nicht nur in Bezug auf die Idee der Bewegung im Objekt Skulptur selbst, sondern auch in Bezug auf die Tatsache, dass die Linie der Hauptvektor für ein ganzes Denken ist, das darauf abzielt, sie als Vorwand für eine Philosophie zu nehmen, die vom Konzept des Nomadentums getragen wird.

Der Bildhauer geht an seine Kunst mit dem Maß ihrer Möglichkeit zur visuellen Mobilität heran, ihres Talents, sich auf sich selbst zu besinnen, und ihrer Fähigkeit, Verbindungen herzustellen. Für ihn ist es in erster Linie wichtig, die Skulptur nicht in einem überzeitlichen Verständnis erstarren zu lassen. Das würde sie von allem abschotten und am Ort festhalten. Es geht also darum, neue Beziehungen zu finden, ihr die Möglichkeit eines neuen Abenteuers zu bieten, ihr schließlich einen Namen und damit eine Identität innerhalb eines Werkzusammenhangs zu geben. Meistens ist dieser Name von einer besonderen Tonart, entweder als klangvolle Metapher oder als Impuls für eine Vokabel, die alle Sprachen in sich vereint. «Eine Skulptur ist für mich», so sagt Schad, „wie eine Persönlichkeit, und ich gebe ihr einen Namen, um sie im Rahmen einer Choreografie zu personifizieren, bei der der Körper das Werkzeug ist.»2 So ist es bei ENFIM. Die Skulptur schwingt sich auf fast 13 Meter empor. Durch ihren Ausdruck kommt man der ihr eigenen Beziehung zur Idee der Unendlichkeit etwas näher. Man kann sich leicht vorstellen, dass sie auf der einen Seite die Erde durchquert und auf der anderen Seite sich zu den Sternen streckt. Zumindest gibt sie die Richtung an, so wie die Pappeln in ihrer Nähe. Ihr Zittern in der Luft knüpft an ihr virtuelles Bewegen an.

«Die äußeren Kräfte, die den Punkt in eine Linie verwandeln, können von Natur aus sehr unterschiedlich sein», schreibt Kandinsky. Die Vielfalt der Linien hängt von der Anzahl dieser Kräfte und ihrer unterschiedlichen Kombinationen ab. Auch die Skulpturen von Robert Schad scheinen in ihrer grafischen Ausdehnung von einer ähnlichen Dynamik auszugehen. Die Stahlelemente, die er Teil für Teil aneinanderreiht – damit werden ihre Gelenke entlang der von ihm räumlich gezogenen Linie miteinander verbunden -, bilden schließlich ein einziges Stück, und ihre knotenartigen Verbindungen sehen aus wie das Ergebnis einer Verdrehung durch die Hand eines Giganten. Von einem Punkt zum nächsten setzt sich die Linie mal hier fort, verzweigt sich wieder dort und bestimmt schließlich das gesamte Spiel der verschlungenen Linien. Robert Schad sagt, er wolle «das Formenspektrum (seiner) Linie öffnen» und spricht von seinen Werken als «lebenden Skulpturen»3. Alles in allem versucht er, den Raum in unterschiedlichsten Situationen aufzunehmen, ohne jemals auf Innovation, Widerspruch oder Infragestellung zu verzichten. Wenn er an dieser Linie festhält, dann deshalb, weil es diese Linie ist, die ihn antreibt, ja sogar zu neuen Ideen anstiftet.

Betritt man ein Werk von Robert Schad, geht man das Risiko ein, sich in seinem unentwirrbaren Lineament zu verfangen. Die Linie ist ein Vor-Wand für ein ganzes Universum von Formen und Gestalten. Hier soll das Auge sich frei bewegen, der Körper sich virtuell in einen Raum begeben, der für alle Empfindungen aufgeschlossen ist: Erhebung, Aufhängung, Überquerung, Instabilität, etc. Am Anfang seiner künstlerischen Handlung nimmt die Zeichnung einen vorherrschenden Platz ein. Es ist der Ort schlechthin, in der allerlei kleine Skizzen auftauchen, die sein Bleistift ohne Vorankündigung und nach bestimmten Automatismen ausführt. Anders als der Architekt, der mit einem bestimmten Ziel vor Augen zeichnet, lässt sich Schad von der Linie leiten, die er auf dem Papier zieht. Für ihn ist es nicht wichtig, ob diese ersten Ideen in einer Skulptur Gestalt annehmen werden oder nicht. Was zählt ist die vitale Energie, die sie für eine mögliche Skulptur freisetzen. In dieser Hinsicht können seine Zeichnungen als Rudimente einer eigenen plastischen Sprache betrachtet werden. Er verwendet sie dann zur Herstellung von kleinen Modellen als Studien zur Machbarkeit seiner Skulpturen.

In dem Gedränge seines Ateliers liegen auf seinem Tisch einige wenige Blätter, die von seinem Verhältnis zum Körper, das seinen Zeichnungen zugrunde liegt, Bände sprechen. Die Figuren sind wie Zeichen einer imaginären Choreografie ausgerichtet und aufeinandergestapelt, und die ihnen innewohnende Bewegung bestimmt
die Arbeit des Bildhauers mit dem Maßstab einer körperlichen Ausdrucksform. Robert Schad sagt, er verdanke der Zusammenarbeit mit Choreografen, wie mit dem deutschen Tänzer Gerhard Bohner, mehr als jeder anderen Art von Unterricht. Wie ein Tänzer, der die Bewegungen seiner Arme und Beine einsetzt, um den Raum zu besetzen, strukturiert der Künstler seine Skulpturen, indem er ihre Gelenke betont, um den Raum besser zu erfassen. Und so wie jener die Bühne in alle Richtungen abläuft, um Teil von ihr zu werden, so liebt dieser seine Skulpturen im Kontext von verschiedenen Orten zu installieren, um sie in der Fülle ihrer Möglichkeiten leben zu lassen.
Weil sie zur Idee der Konstruktion und zur experimentellen Erfahrung mit dem Anderssein gehören, haben Skulptur und Architektur viele Gemeinsamkeiten. Daher gibt es nichts Besseres, als dass sie miteinander in einen Dialog treten. Dieser Dialog ist umso reicher im Hinblick auf Architekturen, deren geschichtliche und memoriale Bedeutung sehr dicht ist, jenseits von irgendeiner Rücksicht auf Zeit, Stil, Form und Material. Gegenüber dem reichen Erbe einer romanischen Kirche, einer gotischen Kathedrale, einer Zisterzienserabtei, eines Renaissanceschlosses, einer Industrieschmiede, eines postmodernen Gebäudes etc. inszeniert die lebendige Präsenz der Skulpturen von Robert Schad ein ganzes Gewebe von subtilen und prospektiven Verbindungen. Sie tragen vor allem dazu bei, eine andere Linie hervorzuheben, die Linie der Zeit, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in das Kontinuum einer Geschichte der Formen aufnimmt.

Seit zehn Jahren organisiert der Künstler eine Reihe von künstlerischen Routen, die Fragen zum Platz der zeitgenössischen Kunst im kulturellen Erbe aufwerfen. Von Deutschland bis Frankreich, über Österreich, Portugal, Italien u.a. hat er Lust an dem Spiel mit der Konfrontation von 5, darauf 10, dann 28 und jetzt fast 60 seiner Skulpturen mit den unterschiedlichsten Orten gefunden, ob besonders erkennbar oder nicht, ob ländlich oder städtisch, aber immer historisch. Auf diese Weise lädt er den Betrachter zu einem Spiel mit der Erinnerung von einem Ort zum anderen ein, seine Skulptur von einer Route zur anderen unterschiedlich zu begreifen und die vielen Variationen zu schätzen. Kurz gesagt, der Betrachter soll sich über Schads Kunst, aber auch über die Bildhauerei an sich eine sich ändernde Vorstellung machen. Schad ringt darum, sie aus der Zwangsjacke zu befreien, in die der Geist, wenn nicht die Tradition, sie üblicherweise einschließt.

Im Zuge dieses Nomadentums verändert die Skulptur selbstverständlich nicht ihre Form, sondern ihr Verhältnis zum Raum, in dem sie sich befindet. Im Gegensatz zu jedem anderen zweidimensionalen Werk ist dies eine ihrer wesentlichen Eigenschaften. Ob im Rund- oder im Flachrelief, die Skulptur ruft die Idee des Wanderns hervor und ist selbst Gegenstand eines Wanderns im Kreis. Die Fülle ihrer ästhetischen Wahrhaftigkeit liegt in dieser einzigartigen plastischen Eigenschaft, die sie ihrer Dreidimensionalität verdankt. Ihre Wahrnehmung ist nie eindeutig, und der Reichtum ihres Potenzials besteht darin, dass sie aus allen Blickwinkeln betrachtet werden kann. Die Vielfältigkeit der Standpunkte wächst noch durch die Vielfältigkeit der Umgebungen, in die sie gestellt wird. Die Werke des Bildhauers hören nie auf, dem auf ihre eigene Weise nachzuspüren.

In direkter Beziehung zum Körper wird die Kunst von Robert Schad sowohl von einer unwiderstehlichen Sinnlichkeit als auch von einer paradoxen Utopie bestimmt. Deshalb zieht sie uns so an, auch wenn sie uns auf Distanz hält. Die luftige Erscheinung seiner Skulpturen und das damit verbundene Streben nach Leichtigkeit verbergen keineswegs ihre Schwere. Die Beschaffenheit ihrer Oberfläche –
einige sind vom Feuer geschwärzt, andere rostig – regt unseren Tastsinn noch mehr an. Hinzu kommt die Frage der Größe, denn sie übersteigt meist jeden menschlichen Maßstab, bis hin zu Werken der Monumentalarchitektur. In seinem Werk kultiviert der Künstler das Paradoxe: Er verwendet Stahl, das Material, das hauptsächlich für die Herstellung von Waffen, Maschinen und technischen Konstruktionen gebraucht wird, «mit dem ich aber tanze, fühle und denke».4 Robert Schad sagt, dass er es der Natur zurückgeben möchte, nachdem es «durch menschliche Kraft und Intelligenz aus der Erde gerissen wurde».5 All dies sind Überlegungen, für die Fernand Léger als einer der Hauptfiguren der Moderne sicher nicht empfänglich gewesen wäre. Er vertrat die Idee, «Architektur sei keine Kunst, sondern eine Art Naturereignis wie Fische und Pflanzen».6 Doch im Gegensatz zu diesem Maler, dessen Architekturen schnurgerade angelegt sind, entspringt Schads Konstruktionsgeist einem grundlegend vitalen Impuls. Es ist, als wolle er die entgegengesetzte Position zu jenem Anderen einnehmen, der ein Dichter war und der laut und deutlich zur Verteidigung der Idee der Schönheit verkündete: „Ich hasse die Bewegung, die die Linien bewegt.»7 Zwischen Apollo und Dionysos hat sich Robert Schad für eine Seite entschieden.

1. Wassily Kandinsky: Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente.
2. Gespräch mit dem Künstler in seiner Werkstatt in Larians-et-Munans am 1. Juli 2021.
3. ebenda.
4. siehe Catalogue „Schad Carré Dix/29 Parcours de sculptures Bretagne“, Gespräche mit Werner Meyer, Chemins du patrimoine en Finistère, Locus Solis, Mai 2016.
5. ebenda.
6. Fernand Léger, Lettres à Simone, Skira, Musée National d’Art Moderne, Centre Georges Pompidou, 1987.
7. Charles Baudelaire, Les Fleurs du Mal – „La Beauté“, 1857

Philippe Piguet
Kunstkritiker und Kurator