PAUL-LOUIS RINUY

PAUL-LOUIS RINUY

Linien formen, den Raum öffnen

Wissen wir wirklich, was Eisen ist, wie viele Jahrhunderte der Erfindungsgabe und der handwerklichen Intelligenz nötig waren, um das Erz zu entdecken, zu isolieren und zu fördern? Wie die Schmieden des 18. Jahrhunderts – unter anderen die Schmiede von Buffon bei Montbard – Eisen- und Stahlblöcke in Hochöfen produzierten, die ebenso architektonisch prächtig wie technisch effizient waren? Von den mythologischen Werkstätten des Hephaistos, dem griechischen Gott des Feuers und der Schmiedekunst, bis zu den hochtechnologischen Stahlwerken, die heute Millionen von Tonnen pro Jahr produzieren, ist die ganze Fantasie des Menschen bei den sukzessiven Etappen dieser handwerklichen und industriellen Fertigung dabei. Darin verdichten sich die Erfahrungen in den vier Dimensionen unseres Menschseins, dem Körper, dem Herzen, der Intelligenz und der Seele. So seltsam, ja sogar fremd das Metall für unser Menschsein auch erscheinen mag – rostig, hart und schwer -, bleibt es insgeheim uns nah, ist mit uns eng verbunden.

Das Metall hat eine brüderliche Dimension, bei der man sich wohlfühlt. In einer Zeit, in der das Virtuelle allgegenwärtig ist, und das Konzeptuelle das Reale oftmals ablöst, tut es gut, die verschlissene Flanke eines Supertankers zu betrachten, der die Ozeane bezwungen hat, oder die Balken einer Riesenbrücke, wie etwa der Golden Gate Bridge, aufmerksam zu beobachten, die sich über irgendeine unermessliche Leere hinausstreckt. Mitten in den Linien, die die traumhaften Polyeder von Robert Schad in der Luft zeichnen, entdecken wir etwas vom Geheimnis unseres Menschseins, etwa in der Suche nach Gleichgewicht, in der Spannung, bei welcher sich Kräfte in der Summe gegenseitig aufheben. Allein das, was am schwersten wiegt, traut sich, mit der Leere umzugehen. Das ist eine Tatsache, vielleicht kontraintuitiv, aber vielfach
bestätigt. In diesen Kompositionen aus Stahlstäben mit einem Querschnitt von 10 x 10 Zentimetern ist das Gewicht nicht mehr eine Schwerkraft, die uns an den Boden fesselt. Wo die Leichtigkeit einer Feder oder eines Strohhalms uns nicht tragen könnte, führt uns die Masse des Stahls sicher und wird zur unbedingten Voraussetzung für die Statur dieser dreidimensionalen Skizzen im Raum.

Staturen nenne ich die Skulpturen von Robert Schad, es sind Kalligrafien aus Metall. Durch ihre Abstraktion, ihre Leere unterscheiden sie sich offensichtlich von den üblichen Statuen aus Stein, Ton oder Bronze. Wie die üblichen Statuen haben sie jedoch die bemerkenswerte Eigenschaft, wie menschliche tanzende Körper im Raum zu stehen. In der Dynamik der abstrakten Kompositionen von Robert Schad sind reale schwebende Körper in Bewegung. Die Glieder, in Form von geschickt zusammengesetzten Stäben, tanzen im Rhythmus ihrer Komposition. Eine essentielle Bewegung durchdringt ihr Wesen, das nur dem Anschein nach starr ist. Wie ich es 2011 im Rahmen der Ausstellung Inventing Singular Worlds
im Landgut Caillebotte in Yerres tun durfte, ist es sehr wichtig, bei der Installation eines Werks von Robert Schad dabei zu sein, um zu verstehen, dass seine Skulpturen – auch wenn sie mächtige Lastwagen zu ihrem Transport und massive Kräne zu ihrer Aufstellung benötigen – keineswegs technologische Objekte sind, wie etwa der furchterregende kolossale Roboter in Metropolis, dem Film von Fritz Lang aus dem Jahr 1927. Jede Komposition offenbart sich als einzigartiges poetisches Wesen, das zu einem fröhlichen und heiteren Tanz einlädt. Die Installation der Skulpturen vor Ort basiert auf der feinen Subtilität ihrer vertikalen Positionierung im Gelände, auf der Art und Weise, wie sich ihre Silhouette gegen die umliegende Architektur und die Baumwelt abhebt. Wie in jedem Tanz entsteht ein Dialog, eine Nähe von Körper zu Körper, die zum Austausch von Herz zu Herz wird und sich letztlich als Hauch von Seele zu Seele entfaltet. Das Metall, das Hephaistos, Ehemann der begehrenswerten Aphrodite, der Göttin der Liebe, schmiedete, führt auf geheimnisvolle Weise zum sanftmütigen Kontakt zwischen Körper und Seele. «Ich bin auf der Suche nach Noten, die sich lieben», sagte der junge Mozart. Robert Schad spricht von ‘Skulpturenfamilien’, die zusammen reisen, gemeinsam ausgestellt werden und sich nach unserer Sichtweise und unserem Verständnis seines Werks gegenseitig ergänzen. Der sich nach oben erstreckenden Vertikalität von SIGNAL entspricht die Horizontalität von KNOX oder BORNI.

Ganz anders als beim zeitgenössischen In-situ-Künstler Daniel Buren ist bei den Werken von Robert Schad die Beziehung zum Ort das Ergebnis einer Alchemie, die in einer einzigen mathematischen Formel zusammengefasst werden kann: 1+1 = 3. Ein Ort plus eine Skulptur bilden nicht eine neue Komposition, sondern eine neue Realität mit einer einstweiligen Lebensdauer von einigen Monaten. So lassen sich die umfangreichen Unternehmungen verstehen, die 2013 in Linz, 2016 in der Bretagne, 2018 in Metz und Saarlouis, 2019 in Oberschwaben, 2020 in Bremen und an vielen anderen Orten erfolgt sind, an denen sich die nomadischen Skulpturen eine Zeit lang fernab ihres Ursprungsortes in Larians-et-Munans (Bourgogne) oder in Portugal niedergelassen haben. Und wir stellen uns diese Knäuel von Stahlseilen vor, wie sie für einige Monate an neuen Orten Halt machen, wie sie die Orte mit ihrer ungewöhnlichen Anwesenheit bewohnen. Während der Dritten Französischen Republik überzog eine Statuomania ganz Europa mit Mahnmalen aus Stein und Bronze, die für eine immerwährende Existenz gedacht waren, heute aber wegen ihres Akademismus und ihrer Seichtheit unsichtbar geworden sind. Dagegen wollen die räumlichen Linienkonstellationen von Robert Schad nicht ewig leben, nur als lebendige Erinnerung in unserem Gedächtnis bleiben. Heute hier, morgen dort zeichnen sie auf dem europäischen Kontinent eine einzigartige Kartografie, die sich von Deutschland über das Finistère bis nach Portugal erstreckt, ein Netz von zeitweiligen Auftritten, die in der Fotografie eine dauerhafte Erinnerung behalten.

Mit Stahl im Raum zu zeichnen bedeutet, Energiekonstellationen in den vier Dimensionen unseres Lebens und unserer Städte aufzuspüren: Höhe, Breite, Tiefe und vor allem Zeit. Mit ihr wird die Dreidimensionalität des messbaren Raums geordnet. Es handelt sich um Kalligrafie im Raum, dort initiieren die Linienkompositionen immer wieder neue Dimensionen. Vom ästhetischen und technischen Standpunkt gesehen hat Robert Schad nichts mit Richard Serra oder Eduardo Chillida gemein. Diese Künstler arbeiten mit dem Volumen, mit seiner Fülle und seiner Oberfläche und haben das Plane und das Volle zum Kern ihrer formalen Erfindung gemacht. Für Robert Schad gilt die Linie: die gemeißelte, die montierte, die komponierte Linie, die den Raum mit einer unvergleichlichen Energie zerteilt und durchsticht. Diese Metallfiguren, Brüder aus Stahl, nehmen Gestalt an und verwandeln sich je nach Lichtvariation in der vollen Klarheit der Sonne, im Schatten des Abends oder im Weiß des frühen Morgens – und laden zu einem nie endenden Tanz ein. Der Tanz der Lebenden, die sich immer wieder erheben,
die sich immer wieder aufrichten, die durch ihr Gewicht der Erdanziehung zu entkommen und ihre Materie bis zu den Sternen zu erstrecken versuchen. Es sind irdische Konstellationen, die dazu da sind, uns zum Himmel hochzuziehen. Die Skulpturen von Robert Schad öffnen im Raum einen der Zukunft zugewandten Hohlraum. Sie ziehen uns in die Höhe, mit ihnen wird unsere Seele mit der Weichheit der Erde und unser Körper mit der Transparenz des Himmels vertraut.

Paul-Louis Rinuy
Kunsthistoriker