LOUIS UCCIANI

LOUIS UCCIANI

Robert Schad – Über die Leichtigkeit des Stahls

Samstag, 26. Juni 2021 – wir sind in Robert Schads Zeichenatelier, sitzen an einem Arbeitstisch, überall Bücher um uns herum; wir haben gerade sein Bildhaueratelier verlassen; ich sah dort einen Wald von ‚Stahlgewächsen‘, ineinander verschlungen, und überall Elemente, die scheinbar dabei sind, ihren Platz in der Un-
übersichtlichkeit der weitläufigen Arbeitshalle zu finden.
Die Atmosphäre ist seltsam, alles scheint durcheinander und doch ist alles geplant, alles an seinem Platz. Ich versuche die unsichtbare Ordnung zu begreifen, die das lenkt, was dort generiert wird. Wir sprechen darüber, es wird didaktisch, ich bin der Schüler. Ich mag diesen Moment, in dem das Seltsame seine eigenen Linien der Kohärenz offenbart, in dem das Chaos und die ihm eigene Anhäufung von Disparatem den Plan aufzeigt, nach dem alles geklärt wird. Nebenbei bemerkt, wenn die Skulptur entschieden abstrakt ist, beinhaltet ihr Ansatz bereits das Vertraute der Figur. Ich setze ein Bild an – hier den Wald –, um das Disparate einzufügen. Ich stelle die Frage nach dem Wie der Annäherung, dem Vokabular und der Syntax: „Meiner Meinung nach ist die Linie die Grundlage meiner Arbeit, wie man es zum Beispiel bei Norbert Kricke oder bei Bernar Venet sehen kann. Aber ihre Besonderheit liegt darin, dass sie, anders als bei Venet, unvorhersehbar ist.“1 Wir sind dem Offensichtlichen nahe, er ist aber derjenige, der es ausspricht. Hätte ich es ohne ihn gefunden? Das Offensichtliche, ja! Die vorgefertigte Linie, wie gebrochen. Aber die gebrochene Linie ist eine Linie, ja, auch die gebrochene Linie besteht sogar aus Linien. Ich bin erstaunt, normalerweise wäre ich mit dem Begriff der Kraft, der in der Philosophie traditionell der Schlüssel zur Bildhauerei ist, an die Sache herangegangen. Robert Schad schickt uns woandershin, wo sich die Kraft in der Linie ausdrückt, aber auch dahin, wo die Linie die Kraft selbst ist. „Die Linie“, sagt er, „ist das elementarste Ausdrucksmittel. Das Kind eignet sie sich an, wenn es zu zeichnen beginnt.“2 Sie ist das Mittel, das er in seiner Bildhauerei verwendet, und genau wie das Kind erfindet der Bildhauer die Arbeit immer wieder, entdeckt die Linie immer wieder neu. Aber was ein Kind, von einer unbändigen Kraft getrieben, auf dem Papier tut, das macht der Künstler mit großem Können. „Die Linie“, sagt er, „dehnt sich vom Punkt aus, ihre Minimalform entwickelt sich bis zur unendlichen Linie.“3 Natürlich kommen mir Referenzen in den Sinn, wie die von Kandinsky und seiner Definition von Punkt und Linie, die ich hier wiedergebe: „Die geometrische Linie ist ein unsichtbares Wesen. Sie ist die Spur des sich bewegenden Punktes, also sein Erzeugnis. Sie ist aus der Bewegung entstanden – und zwar durch Vernichtung der höchsten in sich geschlossenen Ruhe des Punktes. Hier wird der Sprung aus dem Statischen in das Dynamische gemacht.“4

In seinem Atelier hat Robert Schad seine eigene Art, diesen theoretischen Grundlagen Leben einzuhauchen. Er macht die ‚Vernichtung der höchsten in sich geschlossenen Ruhe des Punktes‘ und den Ansatz der Bewegung deutlich. In minimaler Annäherung an seine Arbeit könnte man sagen, er schneidet und schweißt. Die Stahlstäbe, die aus dem Walzwerk kommen – lauter Linien -, werden in Segmente geschnitten – nochmals lauter Linien -, die er wieder zusammensetzt. Mehr als von der fertigen Form, der Ge-
staltung der Skulptur und ihrer Zusammensetzung sind wir natürlich von der Dynamik fasziniert, die ihre Ausführung lenkt. Wie wird die Linie zur Form? Wie wird der Punkt zur Form? Zwei Ansätze sind denkbar: der Übergang vom Punkt zur Linie und die Kontrolle der Linie in der Form. Wie wir sehen werden, ist das keine Sache, die sich nur unter dem technischen Aspekt erfassen lässt. Impliziert und erfordert ist hier vielmehr das Verbinden von verschiedenen Ansätzen. Dies führt zugleich zu der Frage nach der Balance, die jeder Skulptur innewohnt, und darauf, was diese Balance über sich selbst hinausträgt: die Physik und ihre jenseitige Dimension. In dem Maße, wie Kandinsky sich in eine Geometrie der Linien projiziert, greift Robert Schad das Bild des Kindes, das seine ersten Linien zeichnet, aber auch die „Linie von der Geburt bis zum Tod“5 wieder auf. Stellen Sie sich ein DIN-A4-Blatt vor: In der ersten Zeile sind ein Dutzend Punkte aneinandergereiht. Aus jedem Punkt fließt in Form von Fragmenten etwas, das ein Schatten sein könnte: der Schatten des Punktes. Am Anfang gibt es eine Linie, zwar gebrochen, trotzdem eine Linie, die ebenso viele angedeutete Richtungen in sich birgt. Das ist die ursprüngliche Träumerei, Robert Schad spricht von diesem Moment, in dem man sich in die richtige Mood bringt, die Spuren fügen sich ineinander. Unter den Spuren gibt es eine, die dann zur Skulptur werden wird.

Man kommt nicht umhin, sich hier auf Tim Ingold und seine Kurze Geschichte der Linien6 zu beziehen, insbesondere auf das, was er im Laufe eines Streitgesprächs von sich gegeben hat: „Das darwinistische Erbe mit dem von Bergson zu konfrontieren, das war mein Ziel.“7 Hier ist nicht der Ort, die angestrebte tiefgründige philosophische Diskussion weiterzuführen. Um sie jedoch in extremer Vereinfachung für uns zu formulieren, gibt es auf der einen Seite die Entstehung der Arten und die natürliche Auslese, auf der anderen Seite die schöpferische Entwicklung, das heißt in den Worten von Ingold eine kurze Geschichte der Linien in der Form eines Diagramms der Koralle bei Darwin, der formuliert: „Der Baum des Lebens sollte vielleicht die Koralle des Lebens genannt werden“,8 und bei Bergson in Form einer „Anstrengung, Energie aufzuhäufen, und diese dann in biegsame, umformbare Kanäle ausfließen zu lassen, an deren Endpunkt sie unendlich mannigfache Leistungen vollbringt.“9 Wäre ein philosophischer Schematismus, der ebenfalls in die Kraft der Linie überleitet, hilfreich oder würde er im Gegenteil nur Hinweise finden? Im Hintergrund steht die Frage, wo das alles hinführt. Dazu würde man vielleicht sagen: ja, einver-
standen, aber nur um aufzuzeigen, nicht um zu demonstrieren. Die Zeichnung zeigt, demonstriert aber nicht.10 Hier findet die Arbeit von Robert Schad ihre logische Aussage – es ist beinahe ein reines Aufzeigen der Zeichnung –, die Schad in seinen Strichskizzen offensichtlich trifft. Er geht zur Produktion als Beweisführung über. Die Skulptur führt die Linie plastisch vor Augen. Ingold hinterfragt die produktive Logik (vom Weben nach Semper bis zu Linie und Spur nach Riegl),11 Schad bringt sie in Form. Er enthüllt den Prozess, der von der Zeichnung zur Skulptur in einen neuen Kontext führt: „Die Linie kann man nicht berechnen, sie ist frei, sie ist das elementarste Ausdrucksmittel.“12 Er erzählt uns von seinen ersten quasi blindlings gemachten Zeichnungen, die, wie er sagt, von einem Punkt, aus welchem einzelne Linien entstehen, automatisch ausgehen. Sie sind wie Lebenslinien, Linien der Singularitäten, die vom Punkt aus aufschwellen, sich entfalten und schließlich im Punkt enden.

Dann sagt er zwei Dinge: zunächst dass, wenn eine Linie die Struktur verlässt, sie eine andere andockt und zweitens dass sie in Anlehnung an die buddhistische Lehre der Reinkarnation in ein neues Leben eintritt. Auf diese Weise könnte sein Werk als Quelle des Lebens angesehen werden; jede Skulptur gehorcht dem Gesetz der Verwandlung und stützt sich auf die anderen. Man sollte dann in diesen Stahlkonstruktionen mit ihrem imposanten Gewicht und ihrer so ausgeprägten Balance nichts anderes als die Spur unserer Zerbrechlichkeit sehen. In gewisser Weise würde sich dasselbe abspielen bei den zarten und so zerbrechlichen Rosshaaren von Pierrette Bloch und den robusten und so imposanten Stahlkonstruktionen von Robert Schad. Er erinnert sich an seine früheren Installationen, in denen Stahl mit Stoff kombiniert war; er erzählt auch, wie der Tänzer Gerhard Bohner Tanz sein eigentlicher Lehrer gewesen sei. Er spricht über die Musik, die seine Arbeit begleitet und antreibt, von ethnologischen Gesängen bis hin zu John Cage. Er sagt, wie der Tanz zu einem Baum wird. Die Gegenüberstellung von Leichtigkeit und Schwere hebt die Unterschiede in einer vollendeten Dialektik auf, in welcher der Stahl den Part der Leichtigkeit übernimmt. Die Formel bleibt paradox. Es sei hier nochmals festgestellt: Sagen heißt nicht aufzeigen. Aber die Robustheit und die leicht gewordene Materie sind vorhanden, in der Natur greifbar. Man erinnert sich plötzlich an eine Arbeit, selbst repetitiv, Linien auf der Zeichnung, die Baumzeichnung von Hollan. Ob der Maler und der Bildhauer sich kennen? Wahrscheinlich nicht! Alexandre Hollan beschreibt jedoch seinen Spaziergang in der schönen Natur: „Von einem Baum zum anderen, von einer Maltechnik zur anderen.“13 Darin könnte man die von Henri Maldiney beschriebene Logik des Betrachtens verstehen: „Regarder est composé de garder, prendre ou avoir en sa garde, et du préfixe ou préverbe, re, qui marque le retour“14 (wortwörtlich: ‚Regarder‘ setzt sich zusammen aus ‚garder‘ = nehmen oder in Verwahrung haben, und der Vorsilbe ‚re-‘, die Rückkehr impliziert). Ein ähnliches Verfahren der skizzierten, entwickelten und in Zeichnung umgewandelten Linie beobachtet man in Hollans Werk.15 Er erwidert der Linie und ihrem bei Robert Schad zentralen Wert mit dem Strich: „Der echte Strich wird in uns selbst gemacht, um einen neuen Weg für den inneren Raum zu öffnen.“16 Bei Hollan wären wir jedoch unweigerlich im Sichtbaren, im Zu-Betrachtenden. Spuren des Betrachteten. Der Baum existiert wohl, wahrscheinlich auf beiden Seiten, der unsichtbare, nicht betrachtete Wald, die Ansammlung von einzelnen Bäumen, das zum Kunstwerk gewordene Ding, so sehr, dass das Werk als Ausführung desselben jedes Mal einzigartig und unterschiedlich ist.

Das Betrachtete besitzt jedoch seine eigene Wahrheit, mit der es sich auf eine äußere Präsenz bezieht. Dies ist die Zeichnung und Malerei von Hollan. Robert Schads Ausgangspunkt liegt woanders. Nicht außen, sondern innen. Dies könnte uns auf eine sehr alte Debatte verweisen, in welcher Platon oder vor allem einer seiner römischen Interpreten, Calcidius, auftritt. Calcidius liest den Timaios und leitet daraus eine doppelte Ausrichtung des Betrachtens ab, je nachdem ob das Betrachten im Inneren oder im Äußeren geschieht. Hier würde sich vielleicht vor allem der Begriff des geometrischen Betrachtens aufdrängen,17 mit derselben Frage nach der Herkunft der Geometrie. Sieht man genau hin, lassen Hollans Bäume das geometrische Gerüst, das Robert Schad ans Licht bringt, verschwinden.

Dieses Gerüst ist der geometrische Körper. Robert Schad ist es selber, der beim Mimen der Tanzbewegungen erklärt, wie das Knochengerüst den Körper erzählt, wie die Bewegung des Körpers sein Knochengerüst mit einbezieht. Sollte man Schads Werk als eine Antwort des vitruvianischen Menschen auf den Schöpfungsakt der puren Natur betrachten? Und darin die Entwicklung von Artikulationen als vom Bewusstsein nicht kontrolliertes Element verstehen, das damit die Frage nach dem inneren oder äußeren Blick ausschließt? Dann hätten wir es nicht mit einem Expressionismus der Form zu tun, sondern mit den Bedingungen der Form, der ihr zugrunde liegenden Struktur. Der Körper wird durch die physikalischen und mechanischen Möglichkeiten des Knochengerüsts zusammengehalten. Damit könnten sowohl der Körper als auch die Strukturen gemeint sein, an denen die Natur ansetzt. Wir wären da angekommen, wo die Lebenskraft ihren Halt findet. Die Verbindung mit den vollendeten Formen der Landschaft – ob architektonisch vollendet oder einfach natürlich – würde uns in Erinnerung rufen, dass all dies nur dank einer architektonischen Voraussetzung haltbar gemacht werden kann.

Wir wären bei der Suche nach der Struktur, Form der Form, aus welcher Formen geboren werden, angekommen. Trotzdem kehrt die Frage nach dem Ansatzmoment wieder, dem Moment, in dem das Statische, von welchem aus die Bewegung möglich ist, die vitale Kraft empfängt und ansetzt. Die Frage nach dem Inneren und dem Äußeren meldet sich wieder.
In Bezug auf Robert Schads Werk bemerkt Christoph Schreier, dass „die wichtigste Qualität im ‚Konstruktiven‘ liegt, das den Objektcharakter der Skulptur in den Hintergrund drängt“.18 Die Anerkennung dessen, was wir hier die Form der Form, ihr Gerüst, nennen und was er als „konstruktive Qualität“ bezeichnet, begleitet er mit einer vielsagenden und wahrheitsgemäßen Bezeichnung, indem er von „entkörperter Skulptur“ spricht. Was als Skulptur erscheint, soll dann „nicht mehr als punktuelle Einsetzung, sondern als Konkretisierung von Bewegungsenergien, als lineare Entfaltung im Raum“19 verstanden werden. Indem er sich auf Barbara Hepworth bezieht, erinnert er uns daran, dass die Bildhauerei im Allgemeinen und die von Robert Schad im Besonderen schließlich die Landschaft formt („seine Werke stehen im Dialog mit dem Raum, der Gestalt angenommen hat“20). Infolgedessen ist das Gerüst nicht mehr eine Form, die unsere Vorstellungskraft ‚rekonstruieren‘ würde, sondern es gibt sich als die Struktur des Raumes selbst, der sie umschließt. Hier finden wir die paradoxe Formel von Barnett Newman wieder: „Ich werde immer in Bezug auf meine Farbe angesprochen. Dennoch weiß ich, dass ich, wenn ich irgendeinen Beitrag geleistet habe, dies in erster Linie durch meine Zeichnung getan habe.“21 Wir kehren zur Linie zurück – hier zum berühmten Zip –, sie wird zur Zeichnung. Die Zeichnung von Robert Schad, die oftmals aus Brüchen und Segmenten besteht, zeichnet gleichzeitig die Form, die sie im Raum aufnimmt, und macht aus dem Aufnahme-Raum eine Form, die die Linie ‚zeichnet‘. Es findet eine Umkehrung statt, bei der das, was gesehen wird – sagen wir eine verdrehte Linie –,
die Stütze ist, um die herum die Leere zur Form wird. Von da an können wir diese sich wiederholenden Segmente verstehen, in denen die Linie, die sich von Raum zu Raum, von Kontext zu Kontext bewegt, nicht ihre Realität der reinen Form, sondern eine Zeichnung liefert.

Wir befinden uns in einem Moment, in dem das, was aus der Zeichnung entsteht, eine Zeichnung im Raum erzeugt, in dem nichts, könnte man meinen, gezeichnet wird. Es ist aber gerade dieser Raum, der durch die Skulptur gezeichnet wird. Die sogenannte klassische Tradition sieht in der Bildhauerei eine Kunst des Kräfteausgleichs. Hinzu kam für Schopenhauer ein Stillstand in der Fähigkeit, die Lebenskraft darzustellen. Als er sich in die von Lessing eröffnete Polemik einmischte, bekräftigte er, dass Laokoon nicht schreie. Das Werk von Robert Schad, das natürlich im Zusammenhang mit diesen Grundlagen des Gleichgewichts und des Kräfteeinsatzes steht, weist auf etwas anderes hin: auf den gezeichneten Raum.

Wo Christoph Schreier eine anthropologische Dimension im formatierten Raum postuliert, „der durch den strukturierenden Eingriff des Künstlers zum Erfahrungs- und Erlebnisraum für den Menschen geworden ist“,22 würde ich eher zum Metaphysischen (jenseits der oben erwähnten Physik) tendieren. Hier geschieht etwas, das in der Kunst und insbesondere in der Bildhauerei ein wenig in Vergessenheit geraten ist. Dieses Etwas geht über die übliche Formel hinaus, nach welcher der Künstler der Materie eine Form verleiht. Hier wird uns deutlich – mit Schad, in der Analyse von Christoph Schreier , dass auch dem Raum, der das Werk aufnimmt, eine Form gegeben wird. Wir befinden uns nicht mehr in der einfachen dialektischen Opposition, die in der Synthese – dem Werk – aufgelöst wird, sondern in deren Dreiteilung. Letztere ist bereits im Gange, wenn Robert Schad die Entwicklung des Werks beschreibt: von der Zeichnung hin zur Figur und dann zur Skulptur, also die drei Zustände in der Entstehung der Skulptur nun in der neuen Dreiteilung Materie, Form und Raum.
Wenn die Materie den Raum (ver-)formt, handelt es sich über die einfache Hervorhebung der Frage nach dem Ort der Wahrnehmung hinaus um eine andere Dimension, die sich abzeichnet. Robert Schad berichtet, wie ihm der Raum des White Cube plötzlich zu eng erschien. Seine Skulptur verlangte nach etwas, das über diesen Versuchslaboreffekt hinausgeht, etwas, das ihn mit Räumen konfrontiert, die bereits mit Präsenz durchdrungen, bereits (ver-)formt sind, in die seine Skulptur ihre eigenen Veränderungen einbringt. Alles geschieht so, als ginge es darum, bei der Wahl des Aufnahme-Ortes den Aufnahme-Ort der möglichen Intervention der Skulptur zu bestimmen. Der Raum hat eigene Risse, genau diejenigen, in die die Kraft des Materials eindringen kann.

Der Bildhauer, zum Bildhauer des Raums geworden, und die Skulptur, zum Werkzeug der Bildhauerei des Raums geworden, bringen im Laufe der Arbeit die primäre Definition, nach welcher der Materie Form gegeben wird, aus dem Gleichgewicht. Alles, was sichtbar wird, ist nicht mehr Materie oder Form, sondern eine Verlagerung der räumlichen Umgebung. Es zeichnet sich dann ein weiteres Erfahrungsfeld ab, in dem die räumliche Bedingung im Bewusstsein und in seiner Darstellungsfähigkeit sich selbst neu definiert. Das räumliche Punctum der Skulptur, das den Raum mit sich nimmt, definiert den Raum nicht mehr als eine äußere Entität, sondern als eine sich ständig erneuernde Erfahrung, bei der jede Skulptur nicht nur den Raum, den sie umgestaltet, sondern auch die Funktion Raum-in-mir verändert. In diesem Sinne nimmt die Lesart von Christoph Schreier und sein Bezug auf das alte Wort Topografie ihren Platz ein. Die Etymologie, die die Idee der Ortsbezeichnung enthält (in der modernen Auffassung durch die Logik der Kartografie ersetzt), macht Platz für eine Wahrheit des Ortes in der Neudefinition des Raumes. Die Skulptur wird zum Vektor der „Konkretisierung von Bewegungsenergien, zu einer linearen Entfaltung im Raum.“23 In dieser Erfahrung, die an die Erfahrung des Ursprungs der Worte schöpfenden Dichter erinnert, ist die ganz abstrakte Demonstration von Robert Schad eingeschrieben, die beim Umstürzen der räumlichen Lesarten eine neue Art der Interpretation der Welt initiiert.
Dieses Projekt geht schließlich von einem Vorhaben aus, das Andrea Gleiniger so zusammenfasst: „Eigentlich geht es darum, tänzerische und dynamische Bewegungslinien in einer Choreographie von Formen, die in der Skulptur erzeugt werden, zu inszenieren; diese Choreographie, die sich architektonisch und konstruktiv materialisiert“,24 entsteht aus der Veränderung des Raumes. Die veränderte Wahrnehmung lässt einer möglichen neuen Form des Bewusstseins freien Lauf. Die Bande des veränderten Raumes mit der Zeitlichkeit werden dadurch gelockert und bringen eine neue Gleichung der Rationalität zum Ausdruck. Der Apparat wird dann zu einem Schmelztiegel, in dem die Vernunft ihrer möglichen Überwindung experimentell begegnet. Uns wird dann der mögliche Ansatz einer ästhetischen Erfahrung gegeben als das, was von dem Sehen und dem Schauen ausgeht. Damit können wir uns auf der tiefsten Ebene unserer Wissensstruktur begreifen und jenseits aller Rührseligkeit unser Gefühl zu einem anderen Empfinden veranlassen, wo die Welt auch anders wird als das, was wir bis jetzt wussten. Wie die von Robert Schad konzipierte und konstruierte Skulptur als Objekt verschwindet, um zum Gerüst einer Form von und im Raum zu werden, trägt sie zugleich diese veränderte Form in das Bewusstsein der Betrachterin oder des Betrachters und bewirkt so in ihm eine Neuformatierung seiner repräsentativen Fähigkeit. Indem sie den Raum verändert, aus dem sie ihre wahre Form macht, zieht die Skulptur den Einzelnen und die Einzelne zu einer neuen Wahrnehmung der Welt.

1. Gespräch mit dem Künstler in seiner Werkstatt in Larians-et-Munans am 26. Juni 2021.
2. Ebd.
3. Ebd.
4. Wassily Kandinsky. Punkt und Linie zu Fläche. Beitrag zur Analyse der malerischen Elemente [= Bauhausbücher 9]. 2. Aufl. München, Verlag Albert Langen, 1928, S. 51.
5. Gespräch mit dem Künstler in seiner Werkstatt in Larians-et-Munans am 26. Juni 2021.
6. Tim Ingold. Eine kurze Geschichte der Linien, übers. von Quirin Rieder. Konstanz, Konstanz University Press, 2021 [2007].
7. Nicolas Auray, Sylvaine Bulle. L’anthropologie entre les lignes, Gespräch mit Tim Ingold. Collège de France, La vie des idées, 13. März 2014 [Onlinedokument]; https://laviedesidees.fr/L-anthropologie-entre-les-lignes.html [18. Oktober 2021] [eigene Übers.].
8. Charles Darwin, zitiert in: Horst Bredekamp. Darwins Korallen. Die frühen Evolutionsdiagramme und die Tradition der Naturgeschichte. Berlin, Wagenbach, 2005, S. 20.
9. Henri Bergson. Schöpferische Entwicklung, übers. von Gertrud Kantorowicz. Jena, Diederichs, 1930 [1907], S. 258.
10. Vgl. z.B. die Ausstellung Une brève histoire des lignes im Centre Pompidou-Metz 2013, die den Titel von Ingold übernimmt und seine ‚Dialektik‘ der Spur und der Fäden ausführt.
11. Vgl. z.B. Ingold, 2021 [2007], Kap. 2.
12. Gespräch mit dem Künstler in seiner Werkstatt in Larians-et-Munans am 26. Juni 2021.
13. Eva Baila. Alexandre Hollan, le peintre des arbres, 19. Juli 2018 [Video]; https://www.youtube.com/watch?v=Cv2hICxriuA [18. Oktober 2021] [eigene Übers.].
14. Henri Maldiney, zitiert in: Rodolphe Olcèse. Alexandre Hollan ou l’empreinte du visible. In: The Conversation, 24. März 2019 [Onlinedokument]; https://theconversation.com/alexandre-hollan-ou-lempreinte-du-visible-110904 [18. Oktober 2021].
15. Vgl. z.B. L’invisible est le visible, ausgestellt im Musée Fabre in Montpellier.
16. Alexandre Hollan, zitiert in: Olcèse, 2019.
17. Vgl. Béatrice Bakhouche. La théorie de la vision chez Calcidius (IVè siècle) entre géométrie, médecine et philosophie. In: Revue d’histoire des sciences, 66, 1, 2013, S. 5–31.
18. Christoph Schreier. Skulptur als Raumzeichnung. Medienübergreifende Aspekte im Werk von Robert Schad. In: Robert Schad. DANS [Ausst.-Kat.]. Karlsruhe, Badischer Kunstverein, 1999, S. 38–47, hier S. 39.
19. Ebd.
20. Ebd.
21. Barnett Newman, zitiert in: Denys Riout. La peinture monochrome. Histoire et archéologie d’un genre. Paris, Chambon, 1996, S. 72 [eigene Übers.].
22. Schreier, 1999, S. 47.
23. Ebd., S. 38. 24. Andrea Gleiniger. Architektonisches. In: Robert Schad. DANS [Ausst.-Kat.]. Karlsruhe, Badischer Kunstverein, 1999, S. 7–15, hier S. 13.

Louis Ucciani
Präsident des Centre d’art mobile. Besançon
Universität von Bourgogne-Franche-Comté